Adivasi-Kultur und moderner Fortschritt in Indien
In der indischen Gesellschaft gibt es quasi unsichtbare Bevölkerungsgruppen, die im öffentlichen Leben und dessen üblicher Darstellung so gut wie keinen Platz haben. Stattdessen wurden und werden sie diskriminiert, unterdrückt, marginalisiert und ausgebeutet.
Die Adivasi, die indigene Bevölkerung Indiens, leben am Rand der indischen Mehrheitsgesellschaft. Die Adivasis haben sich im Prinzip nie einer fremden Herrschaft unterworfen, sondern im Konfliktfall eher zurückgezogen in Regionen, wo sie ungestört mit ihrer eigenen Kultur überleben konnten. Zu dieser besonderen Kultur gehört, dass sie kaum Herrschaftsstrukturen herausgebildet hat, dass Frauen und Männer, Kinder und Alte mehr oder weniger gleichberechtigt am Leben der Gemeinschaft teilnehmen, dass die Menschen sich verantwortlich für die Gemeinschaft und für die natürliche Umgebung fühlen, dass der Reichtum der Natur nicht ausgebeutet, sondern geschützt und gepflegt wird. Auch in ihrem Glauben unterscheiden sich die Adivasi von der Mehrheitsgesellschaft: Zum größten Teil sind sie keine Hindus, sondern haben ihre eigenen, stark naturbezogenen Glaubenswelten.
Die Rückzugsgebiete der Adivasi sind reich an Rohstoffen
Die Regionen, in welche sich die Adivasi zurückgezogen haben, weckten immer schon die Begehrlichkeit der Herrschenden. Ihr angestammtes Recht am Land, das sie seit Generationen bebauen, wird vom modernen Staat nicht anerkannt. Unter der Erde liegende Bodenschätze wie Kohle, Eisenerz, Bauxit, Uran u.a. werden rücksichtslos ausgebeutet. Die Tatsache, dass in den Gebieten reale Menschen leben, ist für Industrieunternehmen und sogar den indischen Staat selbst kein Grund innezuhalten. Während die Regierungen diese Maßnahmen als Fortschritt, Modernisierung oder Entwicklung propagieren, führen sie für die Adivasi zum Verlust ihres angestammten Landes, zur Zerstörung der natürlichen Grundlagen ihres Lebens und damit auch ihrer Kultur, ihrer politischen Strukturen und ihres Gemeinschaftslebens.
Adivasi und Bergbau in den Projektgebieten der Katholischen Frauenbewegung
In Jharkhand, einem der Kerngebiete der Adivasi, entstand Anfang des 20. Jahrhunderts das erste große indische Stahlwerk. Hier hatte 1899-1900 der letzte große Aufstand der Adivasi seinen Anfang genommen. Bis heute haben sich die hier lebenden Adivasi ein besonders starkes Unabhängigkeitsbewusstsein bewahrt. Die Organisation BIRSA – eine Projektpartnerin der Katholischen Frauenbewegung – unterstützt sie bei ihrem Widerstand gegen die Bergbauindustrie.
Einer der heutigen Brennpunkte des Kohletagebaus ist das Karanpura-Tal, in dem nach vorliegenden Plänen eine weiträumige Zerstörung nicht nur der Lebensgrundlagen zahlreicher Dalit- und Adivasi-Gemeinschaften, sondern auch einer uralten Kulturlandschaft die Folge sein wird, bzw. schon ist. Hier setzt sich die KFB-Partnerinnenorganisation CASS gemeinsam mit den Betroffenen für den Aufbau agrarökologischer Lebensgrundlagen ein.
© Johannes Laping. Der Artikel wurde dem Bildungsbehelf 2020 entnommen und leicht gekürzt.
Johannes Laping war Indologe und Autor und engagierte sich viele Jahre in der Adivasi-Koordination Deutschland.