Die gewalttätige Seite der Pandemie
Carmen (Name geändert) ist 55 Jahre alt und Mutter von drei Kindern. 15 Jahre alt ist die Jüngste. Rund 20 Jahre Martyrium liegen hinter der Familie in der Nähe der Hafenstadt Buenaventura im kolumbianischen Departamento Valle del Cauca. 20 Jahre, die geprägt waren von physischer, verbaler und psychischer Gewalt. 20 Jahre, in denen Carmen Misshandlungen aus Liebe zu ihrem Partner und ihren Kindern ertrug, sich immer wieder von dem Mann trennte, dann jedoch auch immer wieder versöhnte – auch aus Angst, alleine zu sein, allein für die Familie sorgen und sich der prekären Situation und den Nöten stellen zu müssen. Bis es zur Eskalation kam: Einem Angriff, in dessen Verlauf eine der Töchter sich dem Vater mit einem Messer in den Weg stellte, um die Mutter zu schützen – und der Mann drohte, alle zu töten. Dies war der Punkt, an dem Carmen beschloss, sich an die kfb-Partner:innen-Organisation Corporación Vínculos zu wenden.
Es sind zahlreiche Frauen wie Carmen, mit denen Corporación Vínculos arbeitet, ihnen Perspektiven aufzeigt, sie durch psychosoziale Betreuung unterstützt auf dem Weg in ein neues, gewaltfreies Leben. Mit der Methode, die dafür entwickelt wurde, soll den Opfern ihre Würde wiedergegeben werden, im Besonderen durch Anerkennung und Förderung der persönlichen und sozialen Stärken beziehungsweise Wahrnehmung der eigenen Rechte.
Offiziell keine Steigerung
Offiziellen Angaben zufolge ist die Gewalt gegen Frauen während der Covid-Pandemie in Kolumbien nicht angestiegen. Im Gegenteil. Es wurden sogar weniger Fälle registriert. Das entspreche aber nicht der Realität, heißt es von Corporación Vínculos. Wie es zu diesem Widerspruch kommen kann? Einerseits habe sich in vielen Familien die Situation während der langen, harten Lockdowns zusätzlich verschärft: Zusammenleben auf engem und engstem Raum und finanzielle Sorgen hätten an den Nerven gezehrt und Konflikte eskalieren lassen. Zum anderen wäre es durch ebendiese Lockdowns – von April bis September 2020 befand sich das Land fast durchgehend im Stillstand – Frauen kaum möglich gewesen, aus dem Haus zu kommen und Vorfälle anzuzeigen. Darüber hinaus hätten bewaffnete Gruppen ihre territoriale Kontrolle weiter ausgebaut, wodurch sich Frauen auch abseits von Lockdowns nicht aus dem Haus trauen würden. Dass das Vertrauen von Frauen in offizielle Stellen ohnehin gering sei, halte die Zahl der Anzeigen zusätzlich niedriger als die Zahl der tatsächlichen An- und Übergriffe.
In dieser Zeit der Lockdowns war es auch für die Mitarbeitenden bei Corporación Vínculos eine Herausforderung, den Frauen beistehen zu können, berichtet Projektreferentin Verena Rassmann. „Es wurde versucht, die Frauen online und über WhatsApp-Gruppen zu begleiten. So bekamen sie zum Beispiel Anleitungen für Entspannungsübungen oder Spielideen für Kinder“, sagt sie. Was nicht immer einfach war in der Umsetzung. Teils, weil der Zugang zu Internet nicht selbstverständlich ist, teils, weil die Frauen zuhause oft auch keinen Raum hatten, um sich zurückzuziehen und auszutauschen mit der Gruppe.
Besonders schwierig gestaltete es sich mit Frauen im ländlichen Raum, so Mariana Sáenz Uribe, Direktorin der Corporación Vínculos. „Sie haben in den zersiedelten Gebieten nur schwer Zugang zu Internetverbindung. Außerdem war es in einigen Fällen für die Frauen schwierig, ein funktionierendes Mobiltelefon zu haben.“ Dennoch gelang es, zwischen Mai 2020 und April 2021 insgesamt 42 Frauen individuell zu begleiten.
© Renate Stockinger. Der Artikel wurde dem Familienfasttagsmagazin 3/2021 entnommen und leicht gekürzt.
Corporación Vínculos leistet durch therapeutische Maßnahmen und psychosoziale Begleitung einen Beitrag zur emotionalen Stabilisierung sowie zur Heilung der psychischen Wunden von Frauen und Mädchen, die Opfer von sexueller Gewalt wurden. Auf anwaltschaftlicher Ebene setzt sich die Organisation dafür ein, dass staatliche Institutionen, die für die Einhaltung der Rechte von Frauen und Mädchen verantwortlich sind, ihre Verpflichtung wahrnehmen.
Spende für Frauen in Kolumbien