Wenn alte Wunden heilen dürfen
Aguas Bravas begleitet Frauen dabei, ihre Erlebnisse von sexuellem Missbrauch zu verarbeiten. – Ein unverzichtbarer Einsatz für Frauen in Nicaragua.
Sie war sieben Jahre alt, als es zum ersten Mal passierte. „Es“, das sich wiederholte. Immer und immer wieder. „Es“ – das über Jahrzehnte Unaussprechliche, das einen langen Schatten warf über das Leben von Martha, und Angst, Traurigkeit, Scham, Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit zu ihren Begleitern machte. Bis sie schließlich im Alter von 57 Jahren über Empfehlung eines Freundes zu Aguas Bravas Nicaragua kam, einer aus Spendengeldern der Aktion Familienfasttag der Katholischen Frauenbewegung Österreichs unterstützten Organisation. Sie hilft Frauen mittels verschiedener therapeutischer Ansätze, das Erlebte aufzuarbeiten und offen zu benennen: sexuellen Missbrauch in Kindheit und Jugend.
Eine Anlaufstelle, die es kein zweites Mal gibt
Für Frauen wie Martha ist Aguas Bravas eine Anlaufstelle, die es so in Nicaragua kein zweites Mal gibt. Das Besondere an der Organisation sei, dass der Schwerpunkt auf der therapeutischen Arbeit liege, außerdem leiste Aguas Bravas Aufklärungsarbeit in der Gesellschaft und halte Fortbildungen sowie Seminare an Universitäten ab. „So wird schon in der Ausbildung von Psycholog:innen eine Qualitätssteigerung erreicht“, sagt Clemens Koblbauer, kfb-Projektreferent für Nicaragua. Dazu komme, dass ein Großteil der Mitarbeiterinnen selbst in der Kindheit Missbrauch erlebt, diese Geschichte aufgearbeitet und so einen anderen Zugang zum Thema und den Frauen habe. „In dieser Form ist das einzigartig im Land“, so Koblbauer.
Schritt für Schritt Boden unter den Füßen gewinnen
In einer Zeit, in der sie sich völlig verloren und abgetrennt von sich selbst fühlte, Leben und Gefühlsleben ein Chaos waren, gaben Therapeutinnen, aber auch andere betroffene Frauen Martha Halt, begleiteten sie behutsam und voller Fürsorge, schildert die heute 62-Jährige. So konnte sie in Einzelsitzungen, in einer organisierten Selbsthilfegruppe und durch Körpertherapie Schritt für Schritt ihre Geschichte akzeptieren und wieder Boden unter den Füßen gewinnen. „In Workshops lernte ich, dass der Missbrauch im Körper steckt und das Trauma in unserem Körper eingefroren ist. Ich wurde mir der Beziehung zwischen meinem Körper und meinen Gefühlen bewusst und merkte, wie ich meine Stimmungen in meinem Körper ausdrücke. Ich konnte meinen Ärger, meine Frustration wahrnehmen und über meine Gefühle sprechen.“
Diese Methode habe es ihr ermöglicht, mit der Integration der Erlebnisse zu beginnen, ihre Identität wiederzufinden und in einen Heilungsprozess einzutreten, sagt Martha. „Die Einheit Körper – Geist – Seele begann einen Sinn zu ergeben. Durch Aguas Bravas war ich in der Lage, meine Geschichte und mein Leben als Einheit zu sehen und zu verstehen, dass die Ursache für meine Schwierigkeiten als erwachsene Frau auf den sexuellen Missbrauch zurückzuführen ist, den ich in meiner Kindheit erlebt habe und verschweigen musste.“
Auch für Maria war die Begegnung mit Aguas Bravas ein Wendepunkt in ihrem Leben. „Ich habe angefangen, meinen Körper zu akzeptieren, mich um ihn zu kümmern, mich selbst zu lieben! Ich wusste ehrlich gesagt nicht, dass ich in der Lage war, mich schön zu fühlen und so auszusehen, wie ich mich fühle“, sagt sie. „Bei Aguas Bravas wurde aus mir ein selbstbewusster Mensch.“ In der Einzeltherapie habe sie sich als Person anerkannt, „denn ich wusste bis dahin nicht, dass ich das Recht habe, zu sagen ‚Ich will nicht‘ oder ‚Ich will das‘.“ Die Übungen in den Workshops der Körpertherapie hätten ihr geholfen, jene Emotionen freizulegen, die sie sich bis dahin nicht zu fühlen erlaubte – wie Wut, Freude oder Angst. „Bei der Körpertherapie verstand ich, dass ich in meinem Körper missbraucht worden war, und dass es notwendig war, daran teilzunehmen, um das Erlebte irgendwie wieder zu beleben und mich davon zu heilen.“
Die Nachfrage steigt täglich
Zahlreiche Prozesse wie diese hat die Organisation seit ihrer Gründung 2007 begleitet. Die Nachfrage steige täglich. Man habe nicht ausreichend Therapeutinnen, um all die Frauen zu begleiten, da es an Ressourcen fehle, weitere Mitarbeiterinnen einzustellen, berichten Koordinatorin Gabidia Libertad Lopez Morales und Mitbegründerin Brigitte Hauschild, die ehrenamtlich mitarbeitet. Gleichzeitig gebe es nach wie vor keine staatlichen Einrichtungen, die ähnliche Betreuung anbieten. „Da sexueller Missbrauch in der Kindheit in Nicaragua immer noch ein großes Problem ist, bleibt unsere Organisation unverzichtbar“, sagt Gabidia Libertad Lopez Morales. Obwohl auch die Frauenorganisationen im Land hart daran arbeiteten, einen Wandel herbeizuführen, sei das wie in anderen Ländern auch ein langwieriger Prozess.
Nachweis: Die Geschichte von Martha hat Renate Stockinger für das Magazin Welt der Frauen geschrieben. Der Artikel ist in der Ausgabe 5/2021 erschienen.
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Aguas Bravas Nicaragua in Zahlen:
122 Frauen konnten im vergangenen Jahr in 1.056 Sitzungen individuell betreut werden, dazu gab es unter anderem regelmäßige Treffen von Selbsthilfegruppen unter therapeutischer Begleitung, Köpertherapie-Workshops sowie Seminare für Psycholog:innen.